Ankunft einer Ortskraft

Hannover Flughafen. Ein regnerischer Dienstagabend, 19:30. Es ist dunkel. Es ist kalt. Und sehr wenig Betrieb.

Nachmittags hatte Axel von Lifeline in der Afghanistan-Hilfegruppe der OMAS GEGEN RECHTS geschrieben, dass weitere Ortskräfte auf dem Weg nach Deutschland seien und dort in Empfang genommen werden sollten.

Es sind anderthalb Stunden bis Hannover, trotzdem machten wir uns auf den Weg.

Parallel hatte auch die OMA Gruppe in Hannover reagiert. Wir zögerten noch,  ob dann nicht schon genug Menschen vor Ort wären. Aber wir fuhren los. Bei der Ankunft am Terminal trafen wir auf drei Hannoveraner OMAs. Auch sie wären beinahe umgedreht, weil sie dachten, es kämen so viele. Was lernen wir? Es können nie genug sein.

Die Chartermaschine soll am Terminal D ankommen, das allerdings geschlossen ist. So warten wir im Terminal C nebenan und sind alle froh über die gegenseitige Gesellschaft und das nette Kennenlernen.

Die Maschine soll nach unseren Informationen jetzt landen, aber Charterflüge stehen nicht auf der Anzeigetafel des Airports, sämtliche Info-Schalter bereits geschlossen und die Hallen nahezu menschenleer. Ein merkwürdiges Szenario.

Als eine Polizistin vorbeikommt, fragen wir nach dem Flieger aus Islamabad. Die Polizistin ist sehr freundlich und bestätigt uns, dass heute noch mehrere Maschinen landen werden. Der Zugang zu Terminal D sei allerdings tatsächlich für die Öffentlichkeit geschlossen, dort würden bereits Grenzschutz- und BAMF-Beamte auf die Ankommenden warten. Sie bietet uns an, dort nachzufragen. Als sie zurückkommt, informiert sie uns mit Bedauern, dass die Maschine sich voraussichtlich 1-2 Stunden verspätet und es wahrscheinlich überhaupt keine Möglichkeit gäbe, die Ankommenden zu sehen.  Sie würden direkt auf dem Rollfeld mit Bussen abgeholt und zur Einreisekontrolle gebracht. Das Warten würde sich also kaum lohnen, da sich alles bis spät in die Nacht, vielleicht sogar bis in die frühen Morgenstunden hinziehen könne.

Eine afghanische Familie wartet mit uns auf die Ankunft Ihrer Angehörigen. Auch ihnen ist die Enttäuschung anzusehen.

Wir entschließen uns, nochmal zum Terminal D zu gehen, um wenigstens ein Foto für alle zu machen, die nicht herkommen konnten und auf weitere Infos von uns warten. Vor dem Eingang treffen wir dort auf eine Dame vom Bodenpersonal und kommen ins Gespräch. Zuerst versteht sie uns falsch und spricht von einem anderen Flieger, der erst um 22 Uhr erwartet wird. Bei uns keimt Hoffnung auf, dass einfach gerade irgendetwas durcheinander geraten ist und wir doch noch die Ortskräfte in Empfang nehmen können. Wir dürfen zwar immer noch nicht in das Gebäude, sie bietet uns aber an, bei den Beamten im Terminal erneut nachzufragen.

Als sie wiederkommt, kann sie uns leider auch nur bestätigen, was die Polizistin zuvor schon gesagt hatte. Also keine Chance, jemanden zu sehen oder in Empfang zu nehmen. alle würden mit Bussen direkt vom Flieger zur Ankunftskontrolle und dann in Flüchtlingsunterkünfte gebracht.

Etwas hilflos machen wir mit den OMAS aus Hannover wenigstens noch das gemeinsame Foto vor Terminal D.

Auf unserem Weg zurück fällt unser Blick auf das Rollfeld, auf dem gerade mehrere Maschinen landen. Eine davon hält hinter Terminal D. Wir sehen die Abhol-Busse, die auffällige Nummerierungen haben.

Inzwischen haben wir von Axel die Whatsapp-Nummer von einem der Ankommenden erhalten. Schnell senden wir eine englische Sprachnachricht, dass wir da sind, dass wir warten, dass da Busse sind und sie sich die Nummer auf “ihrem” Bus merken und uns mitteilen sollen. Außerdem sollen sie keine Asylanträge unterschreiben, falls Ihnen welche vorgelegt werden, denn sie haben ja – im Gegensatz zu regulären Flüchtlingen – bereits korrekte Visa, die ihnen die ersten drei Monate freien Aufenthalt sichern.

Danach können wir leider nur aus weiter Entfernung beobachten, wie die Menschen in die Busse steigen. Erkennen können wir niemanden.

Die Busse verlassen das Rollfeld und wir überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen. Schließlich teilen wir uns auf. Wir 2 OMAs aus Ostwestfalen (OWL) wollen noch etwas warten, während die Hannoveraner OMAs sich auf den Heimweg machen möchten. Dabei werden sie aber noch eine Extrarunde über das weitläufige Flughafengelände fahren und nach den Bussen Ausschau halten. Falls sie die Busse vor einem der Gebäude sehen, informieren sie uns. Und so trennen wir uns, wir können ja alle im Moment nichts weiter tun, behalten aber wenigstens das gute Gefühl,  dass OMAs überall aktiv sind.

Wir beiden OMAs aus OWL bleiben also am Terminal C zurück. Wir fragen uns, warum die Beamten in Terminal D sind, die Busse aber zunächst einen anderen Weg über das Rollfeld eingeschlagen hatten. Wir möchten wissen, was hier los ist und versuchen, vom ersten Stock aus einen besseren Blick auf die Gebäude zu bekommen. Als wir oben angekommen sind, ist nur noch das inzwischen leere Flugzeug sehen.

Uns ist kalt, wir brauchen einen Kaffee, und so folgen wir dem Schild zum 24-Stunden-Café in Terminal A. Wir wählen den Weg außen an den Gebäuden entlang und halten Ausschau nach den Bussen, entdecken aber keinen einzigen. Hinter einer beleuchteten Fensterfront sehen wir viele Menschen in Uniformen und haben Hoffnung, dass das vielleicht die Befragungsräume sind – es ist aber nur der Schichtwechsel des Securitypersonals.

Im Café in Terminal A treffen wir auf einen Fan. Der Mann hinter dem Bestelltresen zeigt auf unseren Button und jubelt “Sie sind von den OMAs! Ich habe im Internet gelesen, dass Ihr kommt!”. Äh. Ja. Bitte zwei Kaffee. Wir freuen uns. So kommen wir ein wenig ins Gespräch und verschenken unseren letzten Button, den er sofort seiner Kollegin gibt, denn er habe schon einen. Notiz an uns selbst: trotzdem immer ausreichend Buttons dabeihaben.

Auch die Polizistin treffen wir im Café wieder. Sie ist jetzt privat unterwegs, hat Feierabend und holt sich etwas für den Heimweg. Sie erkundigt sich, wie es läuft, entschuldigt sich, dass sie nicht noch mehr tun kann und lobt die Arbeit der OMAs. Das alles führt dazu, dass wir länger bleiben als geplant. Und plötzlich klingelt das Handy.

Es ist die Nummer der afghanischen Ortskraft. Die Nummer, auf der wir am Rollfeld-Zaun die Sprachnachricht mit den Bussen hinterlassen hatten. Voller Freude nehmen wir das Gespräch an – und es meldet sich eine Beamtin aus der Einreisekontrolle.

Ob wir einen “Herrn H.” kennen würden. Der sei gerade angekommen und hätte ihr sein Handy gegeben. Ja, kennen wir, er ist eine Ortskraft, reist mit zwei weiteren Ortskräften an, hat ein Visum, ist also kein regulärer Flüchtling und wir wollten ihn eigentlich in Empfang nehmen. Sie ist sehr nett, sagt aber “Nee, der kommt mit den anderen nach Fallingbostel.” Wohin? Wir haben keine Ahnung.

Sie könne ihn nur “rauslassen”, wenn wir ihr jetzt sofort eine deutsche Adresse mitteilen würden, über die er dann zu erreichen ist. Und wenn wir seine Unterkunft sicherstellen, denn sie können ihn ja nicht einfach “ins Nichts” entlassen. Das macht zwar Sinn – uns wird aber trotzdem unwohl, denn wir haben in unserer bisherigen Flüchtlingsarbeit schon genug unfreiwillige “Patenschaften” erlebt, mit denen Helfende plötzlich in die persönliche und finanzielle Verantwortung gezogen worden waren. Das können wir nicht leisten.

Wir bitten um 10 Minuten Zeit, um die Dinge zu klären. Ja, ist ok, sie würde sich gleich wieder melden. Wir fragen außerdem nach den beiden Mitreisenden von Herrn H.  Sie hält den Hörer kurz weg, wir hören Stimmengewirr, dann ist sie wieder dran: “Er ist allein hier.” Wir fragen erneut nach und erklären ausführlich, dass es eigentlich drei Personen sein müssten, sie wendet sich nochmals an Herrn H. “Nein, er ist allein.” Ok, danke, geben Sie uns bitte einen Moment.

Sie legt auf und wir müssen in diesem Moment entscheiden, wie ein Leben weitergeht. Wir rufen Axel an. Er bestätigt, dass sich Herr H. mit seinem Visum frei bewegen darf. Und wenn nur einer da sei, dann nehmen wir eben den. Auch das mit der Adresse sei undramatisch, wir würden ja nichts unterschreiben. Die Hotelkosten für Herrn H. würden wir erstattet bekommen, das war schon nachmittags geklärt worden. Um den Rückruf der Beamtin nicht zu verpassen, halten wir das Telefonat recht kurz.

Die Beamtin ruft tatsächlich direkt im nächsten Moment wieder an. Also geben wir ihr unsere Adresse und versichern ihr, dass wir ihn wirklich abholen und uns um seine erste Unterkunft kümmern werden. Ok, wir sollen schnell zu Terminal D kommen, sie würde ihn rauslassen, Also doch Terminal D, ok. Und die anderen? Sie fragt wiederum nach. Da seien keine, er sei allein.

Wir machen uns sofort auf den Weg, da die Terminals ziemlich weit auseinanderliegen. Vor Terminal D sehen wir von weitem einen Grenzschutzbeamten und neben ihm Herrn H., der einen total übermüdeten, verwirrten, aber glücklichen Eindruck macht. Auch dieser Beamte ist wieder sehr nett, wir erklären kurz wer wir sind, er weiß schon Bescheid und wünscht alles Gute. Wir fragen Herrn H. nochmals nach den beiden anderen. Nein, er sei allein.

Wir freuen uns für Herrn H. und sind dennoch traurig. Es ist ein bisschen wie die Schlußszene in Schindlers Liste: “Es hätten noch mehr sein können.”

Willkommen in Deutschland

Inzwischen ist es nach 23 Uhr und wir können direkt in Hannover natürlich kaum noch etwas erreichen. Da wir nicht mehr damit gerechnet hatten, ihn oder die anderen heute noch zu sehen, hatten wir natürlich auch noch kein Hotelzimmer oder ähnliches reserviert.

Wir schlagen vor, für die weitere Planung zum Café zurückzugehen, aber er lehnt dankend ab, Kaffee und Tee gab es wohl ausreichend an Bord.

Also suchen wir uns eine ruhige Ecke in Terminal C. Wir sind überrascht, denn hier herrscht plötzlich wieder sehr viel Betrieb, da inzwischen noch weitere, reguläre Flüge angekommen sind. Schließlich finden wir einen Platz.

Wir fragen nach seinen Plänen, und er erzählt uns, dass er eigentlich nach Bonn möchte, weil dort bereits Freunde wohnen. In diesem Moment wissen wir noch nicht, dass das “Ortskräfte-Visum” einen Sonderstatus hat. Das hat uns auch von den vielen Beamten, mit denen wir heute gesprochen haben, niemand erklärt. Darum gehen wir davon aus, dass er – wie mit jedem normalen Visum – eine freie Ortswahl hat. Also bieten wir ihm an, ihn zunächst mit nach Ostwestfalen zu nehmen, da das bereits auf dem richtigen Weg liegt, und ihn dann am nächsten oder übernächsten Tag (wir müssen erst ein paar private Termine regeln) weiter nach Bonn zu bringen.

Dazu müssen wir aber erst das Auto umbauen, denn mit elektrischem Rollstuhl und zwei Hundeboxen ist eigentlich nur wenig Platz. Die Hundeboxen sind zum Glück klappbar, und so kriegen wir alles verstaut.

Auf geht’s also mit Herrn H. über die “German Autobahn” zurück nach OWL. Eine fährt und unterhält sich mit Herrn H., die andere organisiert schnell ein Hotelzimmer. Bis spätestens 1 Uhr können wir noch zum Check-In und so rasen wir durch die Nacht.

Während der Fahrt erzählt Herr H. von seinem Job als Übersetzer und Journalist im Medienzentrum der Bundeswehr. Von den Problemen bei der Pass-Beschaffung. Davon, dass viele nicht mehr zurückkommen, wenn sie ihren Pass abholen wollen. Und dass deswegen viele Anwälte und Zwischenhändler nötig sind. Mit dem Pass kommt man dann  zuerst nach Islamabad (Pakistan) ins Hotel. Die Pakistani sind jedoch nicht wirklich Freunde der Afghanen, also muss man auch dort sehr aufpassen.  Dann wartet man auf einen Flug. Irgendwann bekommt man kurzfristig mitgeteilt, dass es jetzt losgeht – aber nicht genau, wohin. Das wird erst im Flieger angesagt. Also haben sie erst im Flugzeug erfahren, dass sie über Georgien / Tiflis nach Hannover kommen. 11 Stunden im Flugzeug, kein Aussteigen, auch in Tiflis beim Auftanken nicht.

Wir werden stutzig, dass er immer in der Mehrzahl spricht, und fragen nochmal nach seinen Freunden. Erklären erneut, dass wir eigentlich mit mindestens 3 Personen gerechnet hatten.

Ja, sie seien zu dritt gereist. Er und das befreundete Ehepaar. Wir sind total überrascht, weil wir und die Einreisebeamtin doch schon direkt am Flughafen danach gefragt hatten. Offenbar war das missverstanden worden – und vor allem wurde das Ehepaar getrennt befragt, er wusste nach der Ankunft gar nicht, wo die beiden genau waren. Ein einziges Chaos. Per Whatsapp kann er sie dann endlich erreichen, aber es ist mitten in der Nacht, wir sind schon fast am Zielort, und die beiden anderen sitzen im Bus zur Aufnahmestation nach Fallingbostel. Wir können gerade nichts weiter tun, denn da kommen wir nicht an sie heran.

Also bringen wir Herrn H. ins Hotel, wo das nächste Problem wartet: sein PCR Test ist inzwischen 48 Stunden alt. Nach einigem Hin und Her erklärt sich der Portier bereit, ihn trotzdem aufzunehmen, er solle nur am nächsten Tag direkt einen neuen Test machen. Gott oder Allah oder Karma sei Dank, er ist jedenfalls erstmal untergebracht.

Tag 2

Früh am nächsten Morgen klingelt das Telefon. Die zuständige Dame aus unserem Rathaus ist dran. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sich Herr H. bei uns befände und sie wollte jetzt das weitere Vorgehen mit uns besprechen. Wow. Jeder normale deutsche Antrag dauert gefühlt mindestens eine Woche, bis er überhaupt erfasst ist, und hier waren die Informationen “über Nacht” von Hannover in unseren kleinen Ort gelangt. Wir staunen. Und erklären, dass es keine Bürgschaft ist, sondern dass wir eigentlich nur das “Taxi” waren, jetzt aber gern – wie in unserer bisherigen Flüchtlingshilfe auch – als Mentorinnen weiter tätig sein wollen, solange es nötig ist.

Die Dame aus dem Rathaus ist wirklich sehr freundlich und hilfreich, Sie erklärt uns endlich den Sonderstatus der “Ortskräfte-Visa”. Anders als ein normales Visum bedeutet es nicht komplette Freizügigkeit, da der Staat ja für die ehemaligen Bundesangestellten aufkommt. Um die Kosten gleichmäßig zwischen den Bundesländern zu verteilen, werden die Ortskräfte nach dem sog. “Königsteiner Schlüssel” in ganz Deutschland verteilt. Deswegen sind die anderen auch alle erstmal in Fallingbostel aufgenommen worden. Von dort würden sie in den kommenden Tagen weiter zu ihren künftigen Wohnorten gebracht. Sobald sie dann dort registriert sind, haben sie in den ersten drei Monaten Reisefreiheit innerhalb Deutschlands und können eine Verlängerung Ihres Aufenthaltsstatus nach §22 beantragen.

Herr H. sei nun bei uns “gestrandet”, aber sie wird sich gern um Unterkunft und alles weitere kümmern, wenn er hier bleiben möchte. Sie könne aber erst in 1-2 Tagen etwas einrichten, solange müsse er bei uns oder im Hotel bleiben. Wir sind überhaupt nicht auf Besuch eingerichtet, mit den Hunden würde es schwierig …  – also bleibt nur das Hotel.

Dort treffen wir Herrn H. gegen Mittag und gehen in ein türkisches Restaurant. Wir haben viele türkische Läden in der Innenstadt und Herr H. staunt darüber. Wir lachen und erzählen, dass es eigentlich noch witziger ist, denn viele Inhaber sind gar keine Türken, sondern Aramäer oder andere Nationalitäten. Und durch die hohe Konkurrenz der vielen Lokale gibt es eine phantastische Auswahl.

Beim Essen erklären wir ihm den Sonderstatus seines Visums. Wie wir von der Dame aus dem Rathaus nun wissen, haben Ortskräfte wie er ein “Visum-on-Arrival”. Damit wurde der Reiseweg über die verschiedenen Länder gesichert und bei Ankunft in Deutschland hat er automatisch Aufenthaltsrecht nach §22, eine Schutzbedürftigkeit ist also bereits anerkannt ist und er muss nicht wie andere Flüchtlinge den ganzen Weg durch die Anhörungen gehen. Deswegen darf aber auch kein Asylantrag gestellt werden, denn das würde dieses Visum sofort aufheben.

Das bedeutet auch, dass der Staat in den nächsten drei Monaten für ihn aufkommt, d.h. er kann Leistungen beantragen und es wird eine geringe Unterkunft gestellt. Da der Staat für ihn aufkommt, muss er allerdings am zugewiesenen Wohnort bleiben. Ist er einmal dort angemeldet, kann er sich in den nächsten drei Monaten mit seinem Sondervisum frei in Deutschland bewegen.

Darum sind die nächsten Stationen die Registrierung im Rathaus, dann die Anmeldung beim Jobcenter und bei der Krankenkasse. Danach muss bei der Ausländerbehörde sofort die Verlängerung nach $22 beantragt werden, damit er auch nach den drei Monaten bleiben darf, was dann zunächst für drei Jahre gilt.

Er kann auch nicht einfach weiter nach Bonn, es sei denn, die Verwaltung dort nimmt ihn auf. Also rufen wir in Bonn an, die würden ihn theoretisch auch “nehmen”, sind aber bereits überbelegt. Es würde gehen, wenn er bei seinen Freunden dort wohnen könnte, was aber leider nicht möglich ist, da diese nur eine kleine Wohnung haben.

Herr H. ruft seine Mitreisenden an, mit denen er gern zusammen wäre, aber sie wissen immer noch nicht, wo sie hinkommen. Also entscheidet er sich, bei uns im Ort zu bleiben.

Hier kann man noch relativ günstig leben und auch die Job-Aussichten sind nicht schlecht. Das ist ihm wichtig, da er Geld nach Hause schicken will, Er hat zwar selbst keine Frau oder Kinder, ist aber einer der Versorger seiner Eltern und Geschwister gewesen, die jetzt neben den Sicherheitsproblemen auch mit wenig oder gar keinem Einkommen leben müssen. Das sei, so erzählt er, sowieso eines der Hauptprobleme: man selbst ist in Deutschland zwar relativ sicher, hinterlässt aber ein großes familiäres und finanzielles Problem zu Hause.

Nach dem Essen suchen wir eine Test-Station. Er staunt, dass es in unserer Region keine großen Testcenter mehr gibt, sondern nur einen Container auf dem Rathausplatz. Er möchte sich auch gern impfen lassen – und so müssen wir ihm erklären, dass das aktuell nur in den spontanen “Impfaktionen” oder beim Hausarzt möglich ist, aber er hat ja noch keine Krankenkassenkarte. Es fällt uns schwer, das Schließen der bundesweiten Impfzentren logisch zu vermitteln. Wir versuchen ihm den Beschluss der Bundesregierung zu erklären, stellen aber selbst fest, dass es keine gute Erklärung gibt.

(Anmerkung; jetzt, 10 Tage später, während wir den Bericht schreiben, werden die Test- und Impfzentren wieder geöffnet …)

Die Lady am Testcontainer hat eine strahlende Freundlichkeit. Sie fragt nach seinem Pass, er reicht ihr den zwei Tage alten PCR-Test. Sie schüttelt den Kopf, bittet nochmal um den Pass. Er grinst, reicht ihr den Pass, sie schlägt ihn auf, stutzt kurz und fragt lachend nochmal nach dem PCR-Papier. Im Pass steht alle auf Persisch, der PCR-Test ist international, und natürlich kann die Lady kein Persisch lesen. Das hatte er vorausgesehen.

Einen neuen PCR-Test kann er allerdings so schnell nicht machen. Der würde 24 Stunden dauern und müsste privat bezahlt werden. Also braucht er ab jetzt täglich wieder einen Schnelltest.

Mit dem Test läuft ansonsten alles gut und wir gehen ein wenig durch unsere Stadt, reden über Politik und die nächsten amtlichen Schritte. Als wir ihn abends ins Hotel zurückbringen, fragt niemand mehr nach dem Test.

Aber er macht er uns noch auf ein anderes kleines Problem aufmerksam, mit einem simplen Bild …

Wir lachen. Es sind die kleinen Dinge. Hier fehlt ein richtiger Adapter für den Strom, und sein Handy ist inzwischen leer. Eine Powerbank hat er auch nicht – was er sehr bedauert, denn ein Freund in Afghanistan hatte ihm noch dringend geraten, eine mitzunehmen. Also gehen wir in einen Elektronikladen und besorgen Adapter und Powerbank.

Als wir ihn ins Hotel zurückbringen, zeigt er auf einen Süßigkeitenautomaten neben dem Aufzug. Er möchte nichts haben, aber er möchte den Wert verstehen. Ein Artikel kosten laut Aufschrift “1.70” – er hält eine 1-Cent-Münze hin und guckt uns fragend an. Ein studierter Mann, etwas verloren vor einem simplen Automaten. Wir wissen mit der Situation nicht richtig umzugehen. Wir erklären ihm die Münzwerte – aber auch, dass diese Artikel sowieso etwas überteuert sind und zeigen ihm den 24-Stunden-Kiosk ein paar Meter weiter die Strasse runter. Wir kennen den Inhaber und wissen, dass er Englisch spricht. Wenn er etwas braucht, solle er besser dorthin gehen. Ob er denn noch etwas Geld dafür habe? Ja, alles ok.

Wir verabschieden uns für die Nacht.

Tag 3

Am nächsten Tag kommt uns ein Freund zu Hilfe. Er fährt extra 40 Kilometer, um Herrn H. und uns beizustehen. Wir müssen ein neues Hotel finden, da die Rathausdame erst am Freitag, also einen Tag später, eine Unterkunft für Herrn H. zur Verfügung hat, und das aktuelle Hotel ab jetzt belegt ist. Wieder gehen wir mittags in ein türkisches Restaurant, die Stimmung ist etwas gedrückt, Herr H. vermisst seine Freunde. Obwohl wir uns alle auf Englisch perfekt verständigen können, kann er ja mit niemandem in seiner Sprache sprechen. Es ist alles für uns ja schon verwirrend, wie muss es da erst für ihn sein? Er kann sich mit niemandem in seiner Sprache austauschen und ist allein. Wir sind zwar ein guter Halt, aber wesentlich älter als er und es liegen irgendwie doch Welten zwischen uns.

Unser Freund ist ein guter Entertainer und hellt die Situation etwas mit Spaß und Sprüchen auf.

Wieder gehen wir durch die Stadt und zum Testcenter. Die Lady erkennt ihn wieder und freut sich. Sie sind beide im selben Alter und sie findet ihn ganz offensichtlich sehr interessant. Obwohl wir ihm grinsend einen kurzen Tipp geben, verpasst er es, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen.

Der Test verläuft wiederum gut. Herr H. hat Politik studiert und fragt uns während des Spaziergangs viel über Deutschland. Warum sich die Ostdeutschen nicht so gern impfen lassen. Wieso es so lange nach dem Mauerfall immer noch so viele Unterschiede und Neid gibt. Oha, das Thema ist also sogar bis in die Universitäten nach Afghanistan gelangt. Na prima. Und irgendwie müssen wir an den Automaten von letzter Nacht denken. Wir reden über Politik, aber es sind die kleinen Dinge, die schwierig sind.

Abends wechseln wir das Hotel. Es lohnt sich kaum für ihn, seine Sachen auszupacken, denn am nächsten Morgen geht es ja bereits zur Registrierung ins Rathaus und dann in die vorläufig endgültige Unterkunft.

Tag 4

Im Rathaus läuft alles perfekt. Wir staunen. Anders als bei unserer vorherigen Flüchtlingsarbeit ist inzwischen alles super organisiert und verläuft wesentlich schneller und ruhiger als wir es gewöhnt waren. Wir erfahren, dass es bereits zwei weitere Familien der afghanischen Ortskräfte in unserer Umgebung gibt, und dass es wahrscheinlich deswegen auch einfach möglich war, Herrn H. hier im Ort mit aufzunehmen.

Wir kommen mit der zuständigen Dame noch gut ins Gespräch, es endet sogar damit, dass sie freudig sagt “Eigentlich müsste ich doch jetzt auch zu den OMAs!” Na sicher, herzlich gern – wir tauschen Visitenkarten aus und dürfen unsere Postkarten zur Afghanistan-Aktion im Rathaus lassen.

Nach der offiziellen Anmeldung fahren wir mit dem Hausmeister für die Flüchtlingsunterkünfte zur vorläufigen Unterbringung. Es ist ein altes Bauernhaus, etwas abseits, aber für die nächste Zeit vollkommen in Ordnung. Jetzt wissen wir auch, wieso die Dame im Rathaus gefragt hat, ob er ein Fahrrad braucht. Denn alles, was fehlt, kann in einem Lagerhaus der AWO (Arbeiterwohlfahrt) noch kostenlos besorgt werden. Aus Spenden stehen dort auch  Möbel und sogar kleine Fernseher zur Verfügung.

In der Unterkunft empfängt uns Herr A., ebenfalls ein Afghane, der auch dort wohnt, schon einige Zeit hier ist und gut Deutsch spricht. Herr H. freut sich sehr, endlich jemanden zum Reden zu haben.

Wir nehmen Herrn H. noch mit zum Markt, merken aber schnell, dass er ziemlich überfordert ist. Der Markt ist natürlich kleiner als die Märkte in Pakistan oder Afghanistan, also muss man sich etwas mehr darauf konzentrieren, was man eigentlich braucht. Die Preise sagen ihm nichts und er weiß nicht richtig, was er nehmen soll. Also kaufen wir etwas mehr Obst und Gemüse und machen ihm daraus ein kleines “Care-Paket”.

Wir würden ihn auch gern in Ruhe lassen und erstmal in die Unterkunft zurückbringen, aber er möchte unbedingt geimpft werden. Wir haben von einer Impfaktion in der Stadthalle gehört, an der auch Menschen ohne Krankenkassenkarte teilnehmen können. Also fahren wir dort hin. Als wir ankommen, ist die Schlange bereits über einen Kilometer lang – das wird heute  nichts mehr. Wir erkundigen uns nach anderen Impfaktionen und erfahren, dass im Wohnort unsere Freundes heute etwas ähnliches stattfindet und man eventuell gegen 20 Uhr, kurz vor Schluss, noch “mit reinrutschen” könnte. Außerdem würden sich unsere Freunde danach gern mit uns treffen.

Der Plan für den Abend steht also und wir bringen Herrn H. bis dahin erst einmal zurück in die Unterkunft, wo wir ihn in der Obhut von Herrn A. lassen.

Als wir ihn abends abholen wollen, klingelt unser Handy. Ein sehr freundlicher Herr Markus aus dem XY-Weg in der Nähe der Unterkunft ist dran und fragt, ob wir Herrn H. kennen. Der sei gerade bei ihm und hätte sich verlaufen. Was?

Wir lachen gemeinsam und Herr Markus sagt, dass Herr H. gern noch etwas bei ihm und seiner Familie bleiben könne, wir sollen ihn einfach dort abholen. Gesagt, getan. Als wir auf dem Hof ankommen, können wir durch die beleuchteten Fenster eine schöne Szene sehen, die Situation hat fast etwas Biblisches: ein verlorener Mensch, der bei einer völlig fremden Familie am Tisch sitzt und mit ihnen lacht. Wir klingeln, reden noch ein bisschen im Hof, bedanken uns sehr herzlich und fahren los zur zweiten Impfaktion.

Herr H. steigt ein und zeigt uns eine Tiefkühlpizza. Ob wir die haben möchte, er mag sowas nicht. Bitte? Nein, danke – lachend winken wir ab und fragen, was passiert ist. Herr H. berichtet von einem Iraner, der ebenfalls in der Unterkunft wohnt. Er sei sehr nett gewesen und hätte ihn zu einem Spaziergang eingeladen, um ihm die Umgebung zu zeigen. Er hat ihm auch einige Geschäfte gezeigt, aber Herr H. wusste nicht richtig, was er einkaufen sollte. Irgendwo mitten im Ort hätte der Iraner dann plötzlich gesagt, dass er nun keine Zeit mehr habe, er müsse sich mit irgendwem treffen. Dann habe der Iraner ihm die Tiefkühlpizza in die Hand gedrückt und sei verschwunden. So stand Herr H. dann im Dunkeln mitten im Ort, sein Handy war leer, und er kannte den Rückweg nicht genau. Er habe mehrere Leute gefragt, ob sie uns für ihn anrufen könnten, aber keiner habe reagiert. Schließlich hatte er versucht, den Weg zurück zu finden, dann aber aufgegeben und bei Familie Markus geklingelt. Was für ein Glück.

Wir lachen ausgiebig über die “Pizza from Hell” und fahren zur Impfaktion. Auf dem Weg erfahren wir leider, dass es doch aussichtslos ist, dort heute noch mitmachen zu können. Unsere Freunde laden uns stattdessen ein, mit ihnen zum Inder essen zu gehen.

Unterwegs fragt Herr H. nach einer Handykarte und ein paar Einkäufen für den nächsten Tag. Er wüsste ja gar nicht, welche Geschäfte gut seien und wie alles heißt und funktioniert. Von unseren eigenen Auslandserfahrungen können wir das gut nachvollziehen. Und so fragen wir ihn, was er gern essen möchte und gehen für ihn Einkaufen. Auch eine Handy-Karte besorgen wir beim Discounter. Weil aber alle Handykarten inzwischen registriert werden müssen, lassen wir sie auf unseren Namen freischalten. Es ist eine Prepaid-Karte, also für alle sicher, das ist auch Herrn H. wichtig, der uns unnötige Kosten ersparen möchte.

Bei unseren Freunden angekommen stellt Herr H. fest, dass er seine Papiere inklusive der Corona-Testunterlagen gar nicht bei sich hat. Der Iraner war ja ganz spontan mit ihm losgezogen. Wir erklären, dass er seine Papiere unbedingt immer mitnehmen muss, auch bei einem Spaziergang, können ihn aber verstehen.

Leider sind die Corona-Regeln dort, wo wir hinmöchten, etwas schärfer als in unserem Ort. Zum Glück hatte uns die Dame im Rathaus ein paar Schnelltests mitgegeben und der Besitzer des indischen Restaurants erklärt sich damit einverstanden. So wird es ein sehr netter Abend. Außerdem spricht die Bedienung, die wir seit Jahren kennen, zufällig auch Pashtu und Herrn H.’s Stimmung erhellt sich ein wenig.

Spät in der Nacht bringen wir ihn zurück in die Unterkunft.

Tag 5

Am nächsten Tag besuchen wir ihn. Die Heizung hat nicht funktioniert und es fehlt ein Tisch. Ärgerlich, aber alles regelbar. Wir helfen mit unserem Campingtisch aus. Außerdem installieren wir einen mobilen Router, über den sich auch Herr A. freut, denn in dieser Unterkunft gibt es leider kein WLAN.

Die Geschichte mit dem Iraner und der Pizza vom Vortag wird nochmal erzählt. Herr A. berichtet, dass es dem Iraner wohl mental nicht besonders gut ginge und er schon zweimal in die Psychiatrie eingewiesen worden sei. Eine Mischung aus Trauma, Drogen und Alkohol – und garantiert ausgelöst durch eine üble Flüchtlingsgeschichte. Sie würden seinetwegen sogar die Zimmer abschließen. Das alles wusste Herr H. natürlich gestern noch nicht, als er mit ihm spazieren ging.

Tag 6

Am nächsten Tag wird es noch dramatischer. Der Iraner hatte wohl versucht, sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag umzubringen. Jedenfalls hatten sie morgens Striemen an seinem Hals gesehen und gefragt, woher das kommt. Er hatte ganz offen gesagt: “Ich wollte mich umbringen, konnte es aber nicht.”

Wir sind erschrocken. Den Notdienst zu rufen macht keinen Sinn, denn der Iraner ist gerade nicht da. Wir erklären Herrn A. und Herrn H. für alle Fälle sehr genau, wie deutsche Notrufe funktionieren. Es gibt auch einen Aushang in der Unterkunft, auf dem alle Rufnummern stehen. Mehr können wir gerade nicht tun.

Am Abend sind wir bei unseren syrischen Freunden eingeladen. Sie sind großartig, kochen wie die Weltmeister und zeigen Herrn H., dass es gut gelingen kann, in Deutschland Fuß zu fassen.

In der Woche darauf

überschlagen sich die Ereignisse, es ist vieles anzumelden und zu organisieren und das alles für uns neben eigenen Familien und Vollzeit-Berufstätigkeit.

Außerdem kam es zu einem großen Schock für uns alle: Der Iraner hat sich nur zwei Tage später tatsächlich umgebracht. Direkt in der Unterkunft erhängt. Außer den Afghanen wohnen dort noch zwei Kenianer, und einer von ihnen hat ihn gefunden. Polizei, Notarzt, Pastor … das ganze Programm. Auch unsere Dame aus dem Rathaus ist schwer betroffen. Wir hatten sie zwar direkt informiert, nachdem wir von dem ersten Versuch gehört hatten, aber es war ihr nicht möglich, den Iraner erneut in eine Klinik einweisen zu lassen. Ihren Job möchten wir auch nicht haben.

Herr A. und Herr H. wollen jetzt natürlich unbedingt und am besten gemeinsam die Unterkunft wechseln, daran arbeiten wir gerade.

Außerdem frieren sie. Die Kleiderkammer des örtlichen Roten Kreuzes konnte zwar mit einigem aushelfen, aber warme Jacken waren vergriffen und wir versuchen diese jetzt privat zu organisieren.

Herrn H.’s Freunde sind inzwischen in ihrer Unterkunft in der Nähe von München,. Wir sind mit den Münchner OMAs in Kontakt und versuchen, ein Hilfsnetzwerk zu bilden.

Herr H. spricht inzwischen auch schon ein paar Worte Deutsch. Im Fernseher haben wir die deutschen Untertitel zugeschaltet und ihm ein kleines Persisch / Deutsches Wörterbuch geschenkt, das er immer bei sich tragen kann.

Die eigentliche Arbeit für uns OMAs beginnt also nach der Spendenaktion – wir werden weiter berichten. Aufgrund der aktiven Tätigkeit können sich die Zwischenberichte allerdings immer etwas hinziehen, wir bitten um Euer Verständnis.

Herr H. ist ziemlich verzweifelt, was die Lage seiner Familie und die der Kolleginnen und Kollegen betrifft, die noch in Afghanistan sind. Sie brauchen uns. Jetzt und weiterhin.

Weiterlesen – inzwischen gibt es Teil 2 des Berichts:
omasgegenrechts-owl.de/ankunft-einer-ortskraft-teil-2

Herzlichst, Sandra Schöngeist
OMAS GEGEN RECHTS OWL

P.S. Dieser Artikel und weitere Informationen zur Afghanistan-Aktion sind auch auf der Webseite der OMAS GEGEN RECHTS NORD erscheinen.